Hebammenkunst versus Dogmatik

Maieutik*, was so viel heißt wie Hebammenkunst, ist eine Gesprächstechnik, die Menschen dabei begleitet, Einsichten zu gewinnen, diese sozusagen zu gebären und damit in gewisser Weise sich selber, um zu dem zu werden, der sie wirklich sind. Diese Gesprächstechnik geht auf Sokrates zurück, dessen Mutter eine maia (Hebamme) war. Ein Lernender findet durch geeignete Fragen einen Sachverhalt selbst heraus, anstatt den Lernstoff dozierend vom Lehrer mitgeteilt zu bekommen.

Durch geeignete Fragen wird das Gegenüber dazu veranlasst, sich selber zu erkunden – sofern der Mut dafür aufgebracht wird. Egozentriker haften an ihren Selbstkonzepten und fürchten Veränderungen. Wer zu sich selber finden will, kommt nicht daran vorbei, die Selbstbilder, mit denen er sich identifiziert, immer neu in Frage zu stellen.

Unser fixes Selbstbild lässt uns glauben, wir wüssten schon, wer wir sind – und es käme nur noch darauf an, uns selbst zu optimieren: mehr Stunden im Dienst, mehr Opfer, mehr Vorrechte. Das macht uns blind für all die Möglichkeiten, die tief in unserem Inneren schlummern und die die Größe und die Schönheit eines Menschen ausmachen. Das Fremde, Neue, Unbekannte entfesselt das, was in der Tiefe unserer Seele darauf wartet, gelebt zu werden.

„Der Mensch wird am Du zum Ich“, damit brachte der Philosoph Martin Buber (1878 – 1965) dieses fundamentale Prinzip des Lebens auf den Punkt. Wir brauchen andere, wir brauchen das Gespräch mit ihnen. Glaubenssätze oder Dogmen radikal in Frage zu stellen, rüttelt an dem meist trügerischen Selbstbild. Das freilich setzt voraus, dass man bereit ist, sich für andere zu öffnen. Das ist oft schmerzhaft, aber mehr noch ist es heilsam, es hält uns im Fluss und lässt uns lebendig sein. „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“. Wir sind nicht nur die Produkte unseres Wollens oder Könnens, wir sind auch Gesprächsergebnisse aus der Konversation mit dem Schöpfer und anderen Menschen. Das sind unsere Geburtshelfer (wenn wir sie und Sie uns zu Wort kommen lassen).

Jesus war ein meisterhafter Geburtshelfer, während er Gespräche mit den Menschen führte. Über das Erzählen von Gleichnissen und zielführendes Fragen lenkte er zu einer eigenen Erkenntnis des Lernenden. Er half Nikodemus wiedergeboren zu werden, indem er ihn darin bestärkte, das Pharisäer-Selbstbild in Frage zu stellen.

Es ging ihm weder um Leistungsoptimierung, noch um Gleichschaltung. Die Jünger des Johannes betrachtete er nicht als Bedrohung. Seine Familie dachte zeitweise, er sei von Sinnen und zu Lebzeiten glaubten seine Brüder nicht an ihn (wäre Jesus heute ein Mitglied der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas, dann hätte er nach deren Lehre, mit ihnen wohl den Kontakt einstellen müssen, weil sie ausgeschlossen worden wären). Jesus akzeptierte verschiedene Formen der Nachfolge: die Zwölf, die Frauen, die mit ihm wanderten, Jünger, die zeitweise mit ihm reisten, Johannes und dessen Jünger in der Wüste. Er hatte auch Freunde, mit denen er losen Kontakt durch Besuche pflegte und hier und da geselligen Umgang mit Steuereinnehmern und Pharisäern.

Wer sich auf die Lehren Jesu einlässt, wird innerlich wachsen und reifen – ein Prozess, der nie endet. Denn der Mensch, solange er Mensch ist, ist niemals fertig oder vollkommen. Er ist ein Wesen, ein Geschöpf, dessen Sein ein Werden ist. In diesem Sinne ist die von Jehovas Zeugen angestrebte Vollkommenheit eine Illusion, weil sie einen Zustand beschreibt, der sich nicht noch weiter verbessern lässt.

Wohlgemerkt: Maieutik ist weder Belehrung und ständiges Rezitieren von Fragen und Antworten, die in vorgefertigten Phrasen eines Studienartikel beantwortet werden, noch Indoktrination durch Vorträge. Der Dogmatismus steht der Maieutik entgegen.  Der Dogmatiker ist bestrebt, Menschen daran zu hindern, “geboren” zu werden. Was auch immer andere sagen, was auch immer an Entwicklungen ablaufen mag, es wird unbeirrbar an den vermeindlich richtigen Auffassungen festgehalten. Häufig, aber keineswegs immer, sind sich Vertreter von dogmatisierten Auffassungen nicht darüber bewusst, Dogmatiker zu sein. Oft bestreiten sie dies mit aller Entschiedenheit (Link, ab Min. 3:30). Wer die “Wahrheit”, die der Dogmatiker zu haben glaubt, nicht teilt, ist entweder dumm oder böse. Den Dummen hat man die Wahrheit einfach noch nicht gesagt oder sie sind nicht in der Lage, sie zu verstehen. Die Bösen wollen die Wahrheit nicht verstehen, weil sie von niederen Motiven geleitet werden oder Instrumente des Teufels sind.

Wenn Dogmatiker mit Andersdenkenden diskutieren, dann um denen die richtigen Auffassungen zu vermitteln. Denn alles Wichtige hat man ja bereits richtig erkannt. Die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft ist bei Dogmatikern extrem herabgesetzt. Lediglich auf Basis der Wahrheiten, die man bereits zu besitzen glaubt, lernt man noch dazu.

Eine Vorgehensweise von Dogmatikern ist auch, die von ihnen oder ihren Lehrern gemachten Aussagen neu zu interpretieren, wenn sie allzu sehr der Logik, der Plausibilität, den Tatsachen bzw. den Entwicklungen (z. B. der Gesellschaft, der Wissenschaften usw.) entgegenstehen. Das kann dazu führen, dass man sich in noch größere Widersprüche verstrickt, die Behauptungen noch absurder werden, nur noch im Rahmen der Verteidigung der Aussagen nachvollziehbar sind, bzw. einen Sinn ergeben. Das kann aber auch dazu führen, dass am Ende nur noch Wörter oder Sätze »gerettet« werden, aber nicht die Inhalte, die ursprünglich mal mit diesen Wörtern und Sätzen verbunden waren. Man gibt seine Auffassungen faktisch auf, ohne sich dessen bewusst zu sein, ohne sich das eingestehen zu wollen (Die Beschreibung des Dogmatikers ist auszugsweise entnommen aus https://www.philolex.de/dogmatis.htm) oder mit den Worten des Dichters Wilhelm Busch gesagt:

Seine Meinung ist die rechte,
Wenn er spricht, müsst ihr verstummen,
Sonst erklärt er euch für Schlechte
Oder nennt euch gar die Dummen.
Leider sind dergleichen Strolche
Keine seltene Erscheinung.
Wer nicht taub, der meidet solche
Ritter von der eignen Meinung.

Ein Nachfolger Jesu zu sein, ist so viel schöner als ein Nachfolger von Dogmatikern zu sein. Matthäus 11: 25-30 vermittelt dies:

“Zu jener Zeit antwortete Jesus und sprach: „Ich preise dich öffentlich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du diese Dinge vor den Weisen und Intellektuellen verborgen und sie Unmündigen geoffenbart hast. Ja, Vater, weil so zu handeln dir wohlgefällig gewesen ist.  Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden, und niemand erkennt den Sohn völlig als nur der Vater, noch erkennt jemand den Vater völlig als nur der Sohn und jeder, dem der Sohn ihn offenbaren will.  Kommt zu mir alle, die ihr euch abmüht und die ihr beladen seid, und ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin mild gesinnt und von Herzen demütig, und ihr werdet Erquickung finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“

 

* “Mäeutik ist die gängige latinisierte Form des aus dem Altgriechischen stammenden metaphorischen Ausdrucks Maieutik (μαιευτική maieutikḗ [téchnē] „Hebammenkunst“). Der Begriff bezeichnet ein auf den griechischen Philosophen Sokrates zurückgeführtes Vorgehen im Dialog.

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Tilo an mo-wa-ni bzw. ni-wo-ma: Ich bin angenehm überrascht! Diese geistige “Hebammenkunst” bewundere ich immer  noch an Jesus Christus. Wie oft geschah die Belehrung an mich durch diese Kunst! Wenn ich in meinen Tagebüchern lese, muss ich sagen, dass Einsichten und Zurechtweisungen des Herzens mich geformt und bis heute verändert haben. Ich weiß, wem ich das zu verdanken habe! Der Horizont wird weit! Der Glaube wird tief! Die Liebe wird wahraftiger und man selbst authentischer. Das ist die wahre Belehrung, die auf den Segen des neuen Bundes zurückgeht: “ICH schreibe mein Gesetz in ihr Herz, ich lege es tief in… Weiterlesen »

An den von uns sehr geschätzten Autor! Wir freuen uns über die geistige Bereicherung, die du uns hier bietest. Wir erhalten durch Artikel wie diesen Gelegenheit für unsere Weiterentwicklung, wie sie keine Zusammenkunft, kein Artikel in einer  der Wachtturm-Schriften in Ansätzen bieten könnte. In der ORG wird dir deine geistige Beweglichkeit abtrainiert, um nur noch nach Schablonen gefertigten gleichschaltenden Informationen zu folgen. Hier wird – durch Artikel wie diesen und viele andere, die noch in diesem Stil hoffentlich folgen werden – unser Geist, unsere Seele und unser Herz berührt, um unserem großen Lehrer und König Jesus Christus zu folgen. Und um alles… Weiterlesen »

Liebe BI-Gemeinde,

ein sehr interessanter Artikel ist im Nachbarportal — Bruderinfo.de —

gepostet worden:

Leitende Körperschaft — biblisch oder unbiblisch?

Ich habe ihn mir gleich einmal ausgedruckt, so gut fand ich ihn.

 

 

Hallo, sehr interessanter Artikel! Allerdings möchte ich ergänzend zu bedenken geben, dass Dogmatik an sich erst einmal nichts schlechtes sein muss. Wir finden in der Bibel auch Beispiele davon, wie die zehn Gebote oder die alttestamentlichen Speisevorschriften. Wichtig ist, was man aus Dogmen (Glaubensüberzeugungen) macht und wie man damit umgeht. Die Pharisäer verstanden Dogmen als die absolute Wahrheit, an die es sich zu halten und die es zu erfüllen galt. Demnach sollte der Mensch durch das Erfüllen der Dogmen Gott näher kommen. Jesus hingegen vertrat eine andere Sichtweise: Die Dogmen der Bibel haben den Zweck, auf ihn hinzuweisen und uns… Weiterlesen »

Langsam arbeit ich mich hier durch sämtliche ältere Artikel durch und der hier hat mich ganz besonders angesprochen. Vielen Dank ! zu dieser Feststellung möchte ich gerne noch was sagen: “Unser fixes Selbstbild lässt uns glauben, wir wüssten schon, wer wir sind – und es käme nur noch darauf an, uns selbst zu optimieren: mehr Stunden im Dienst, mehr Opfer, mehr Vorrechte. Das macht uns blind für all die Möglichkeiten, die tief in unserem Inneren schlummern und die die Größe und die Schönheit eines Menschen ausmachen. Das Fremde, Neue, Unbekannte entfesselt das, was in der Tiefe unserer Seele darauf wartet,… Weiterlesen »

Liebe NaturundFreiheit,

es ist so schön, immer wieder solche Kommentare, wie Deinen hier zu lesen. Auch ich habe mich anfangs durch die älteren Artikel gearbeitet und erleichtert aufgeatmet, weil ich meine eigenen Gedanken hier wieder gefunden habe. Das zeigt mir immer wieder, wie sehr wir, die wir in ein Gefühls- und Denkkorsett gepresst wurden, es brauchen, dass die Energie des Geistes in Freiheit  fließen kann. So sind wir gemacht. Und nur so kann auch die Liebe sich entfalten. In Freiheit.

 

Alles Liebe

Argentum

@Argentum und Dorkas “Gefühls- und Denkkorsett“ … wie wahr! Angeblich sind wir frei, aber nicht nur das Denken, auch das Fühlen wird uns vorgeschrieben. Wenn Du z.b. Bei den Königreichsliedern nicht total abgehst und in Deiner Freizeit voller lächelnder Hingabe mitsingst, dann bist Du schon sehr verdächtig ;-))) Ich lerne gerade jeden Tag, einfach im Moment zu leben, das zu sehen und zu fühlen, was gerade da ist. Wir sind ja in dieser Gesellschaft (nicht nur ZJ, sondern die meisten Menschen um uns rum) nur noch fähig entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu leben (blöde Erinnerungen, die… Weiterlesen »

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