Urlaubszeit – Reisezeit

Die Reise

Mein Verhältnis zur Bibel ist ambivalent und beginnt erst in letzter Zeit aufzuklaren. Von klein auf bekam ich vermittelt: der Treue Sklave ist der Führer, der mich mittels seiner Organisation durch die Bibel navigiert. Hier

Heute kommt es mir vor, als habe ich zwar Jahrzehnte lang ein faszinierendes Terrain bereist, dabei aber immer in einem Organisations-Bus gesessen mit einer grossen Truppe von brüderlichen Reisegefährten und einem diktatorischen Führer.

Der Reiseführer hat bestimmt wie und wohin der Bus fährt. Er hat uns überzeugt, dass es lebensgefährlich und vermessen ist, den Bus zu verlassen, weil nur er allein die Bibellandschaft kennt und uns erklären kann. Was andere Reiseführer berichten ist immer irreführend und was man selbst zu erkennen glaubt kann nicht gebilligt werden. Mit der Zeit meinte ich sogar, von diesem Bus aus, das Bibelland in und auswendig zu kennen. So weit, dass es mich langweilte. Schon wieder die gleiche Strasse zum hundertsten Mal auf und abgefahren. Die typischen Touristenziele (Lieblingslehrpunkte) immer wieder von Neuem abgeklappert.

Der Reiseführer

Eigentlich sollte von einem Reiseführer erwartet werden, dass er mir das Land näherbringt. Zunehmend muss ich jedoch feststellen, dass er die meiste Zeit damit zubringt zu erklären, warum er der beste und einzig legitime Führer ist und warum wir unbedingt einzig ihm vertrauen müssen. Er sorgt scheinbar für alles was wir brauchen und kontrolliert alles was uns im Bus erreicht. Er pocht auf unseren Gehorsam den Bus niemals zu verlassen und spart nicht mit furchteinflössenden Schilderungen, was passiert, wenn jemand doch auf die Idee käme.

Die Reisegruppe

Die Mitbrüder sind eine Mischung aus Naiven, Autoritätshörigen, Verstrahlten, Schlauen und Aufrichtigen. Viele befinden sich in einer Art Starre, die Ihnen der Reiseführer eingeimpft hat. Ein paar jedoch entwickeln eine zunehmende Immunität und sind am Aufwachen. Bei den Einzelnen verspüre ich das Wirken des Heiligen Geistes, wenngleich die Masse vom Reiseführer dominiert wird.

Der Reisebus

Bis zu einem gewissen Grad gibt auch eine autoritär begleitete Busreise einen gewissen Einblick in ein Land. Das Dasein im Bus hat durchaus auch schöne Seiten: das gemeinsame Liedgut, die vertrauten Formulierungen, die Mitreisenden, die Erinnerungen meiner Kindheit und Jugend. Zunehmend wird es mir aber im Bus eng und es wächst der Wunsch, auf eigene Faust die Bibel zu erkunden und auch mal zu hören, was andere “Reiseführer” zu sagen wissen. Es geht im Bus nicht um Wahrheit über das Bibelland. Es werden Stellvertreter-Themen behandelt: vordergründig steht die Loyalität eines Christen – in Wirklichkeit geht es um den Führungsanspruch des Sklaven. Vordergründig stehen die Warnungen – in Wirklichkeit geht es um Gehorsam durch Angst. Vordergründig steht der Schutz – in Wirklichkeit geht es um Isolation. Vordergründig steht die Nächstenliebe – in Wirklichkeit geht es um Werbung. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Ausflüge auf eigene Faust

Ich stelle bei meinen Ausflügen fest, dass das Land umso faszinierender wird, je weiter ich mich von dem Bus der Organisation entferne. Die Bibel “barfuss” lese. Mich provozieren, herausfordern und inspirieren lasse. Damit lebe, dass es für so einiges (noch?) keine Erklärung gibt. Mich vom Buchstaben löse und zwischen den Zeilen zu erahnen beginne. Die Grenze zwischen angenommener Realität, Analogien und Symbolik verschwimmen oder offenlasse.  Gott und nicht den Reiseleiter sprechen lasse. Die Erkenntnisse aus diesen Ausflügen sind so lange ungefährlich, wie Sie mit denen des Fremdenführers übereinstimmten und niemand aus der Busgruppe etwas bemerkte. Es liegt aber auf der Hand, dass mein Sitz im Reisebus zum Raketenstuhl wird!

Erkenntnisse

In letzter Zeit habe ich bewusst Abstand gesucht von der “Vertreterschulung” während der Woche, von Schriftverdrehungen anhand des Studienwachtturms am Wochenende und vom “geistigen Kongress-Festmahl” mit der Slaven-Diät. Ich möchte meinen Glauben jedoch nicht auf das verengen, was mir einleuchtend ist. Ich bin mir bewusst, dass ich blinde Flecken beim Bibellesen habe und frischen Zufluss in meinen Glaubenstümpel brauche, damit er nicht umkippt. Ich brauche und suche Reibepunkte mit den Brüdern in der persönlichen Interaktion. Schreibt doch die Schrift in Hebräer 10:24-25:

“Und laßt uns aufeinander achten zur Anreizung zur Liebe und zu vortrefflichen Werken, indem wir unser Zusammenkommen nicht aufgeben, wie es bei einigen Brauch ist, sondern einander ermuntern, und das umso mehr, als ihr den Tag herannahen seht.”

Der griechische Begriff paroxysmos (παροξυσμός) der mit “Anreizung” wiedergegeben wird erscheint auch in Apostelgeschichte 15:39 beim Aufbruch Pauli zur zweiten Missionsreise. Die Bibel berichtet erstaunlich offen von der Erbitterung (paroxysmos) zwischen Paulus und Barnabas. Erweitert kann der Sinn von Paroxysmos noch mit den Begriffen “Antrieb, Ansporn und gereizte Stimmung” werden. Genau wie meine Stimmung, wenn ich die Zusammenkünfte verlasse: mit Nichten stets angespornt sondern zunehmend gereizt und mitunter auch erbittert. So paradox das klingt: Hin und wieder suche ich Reibung und Reizung mit den Brüdern im Reisebus und in den Werbeschriften des Busführers. Nicht weil ich Streit suche, sondern weil ich spüre, dass Jesus mich so zur Liebe zur Ermunterung und zu guten Werken anspornt.

Aufbruch zu neuen Ufern mit neuem Reiseleiter

Von den All-inclusive-Pauschalreisen mit dem Bus habe ich mich gelöst und spüre keinerlei Verpflichtung beim jw.org-Veranstalter “exclusive” zu buchen. Wer navigiert mich jetzt durch das Bibelland und begleitet meinen Lebensweg?

“Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von ihm selber reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.” Johannes 16:13

Der heilige Geit wird jedem gewährt der darum bittet (Lukas 11:13). Immer wieder will ich bitten von ihm geführt zu werden. Ab und zu kommt es mir vor, als dürfte ich sogar im Bibelland mit dem Geist fliegen und dabei ganz neue Seiten kennenlernen. Das ist so wunderbar.

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Hallo Debora, das ist eine schöne Geschichte, in der sich bestimmt viele wiederfinden. Ich verstehe den Vergleich – der ist auf jeden Fall in Ordnung! Das Problem bei dem von Dir beschriebenen Fahrzeug ist allerdings noch ein weiteres: Die Fahrt in diesem Bus hindert alle Mitreisenden, überhaupt Christen zu sein. Das größte Gebot, welches ein Christ halten soll, ist: “Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst” – in Verbindung mit der Liebe zu Gott. JZ jedoch isolieren sich in ihrer Gemeinschaft – und erklären alles außerhalb von ihrem “Bus” für gefährlich, schädlich, satanisch, weltlich…. – so schreibst Du es richtig. Dies… Weiterlesen »

Tilo an Debora

Das ist ein zuteffendes Stimmungsbild! Seit wir den Bus verlassen haben, wird uns bewusst, was christliche Freiheit ist: Tatsächlich in eigener Verantwortung vor Gott zu stehen und die Freiheit des Denkens und Fühlens zu erleben. Es ist wunderbar, am Tropf des Wortes Gottes zu hängen und zu beginnen, die Tiefe, Höhe und Breite der Liebe Gottes zu erkennen, die in Jesus Christus ist. Die getönten Scheiben des Buses und das redundante Reden des Reiseführers haben uns auch nur mutlos und enttäuscht zurückgelassen. Vielen Dank!

Tilo

WT-Logik kurz erklärt: Wenn irgendwo ein Unrecht passiert, ist meistens das Opfer selbst schuld. Außer in Russland, da ist die WTG einfach nur ein “armes, unschuldiges Opfer”. Mein Beileid zu dieser Logik.

Liebe Debora,

ganz lieben Dank für deinen erbauenden Artikel.  Für mich war es sehr angenehm deinen Ausführungen zu folgen, gerade, weil der Artikel nicht so endlos lang war.  So konnte ich das Gelesene in mir wirken lassen, und das hat mir sehr gut getan.

Jetzt habe ich das Bild von dem Org.-Reisebus und dem herzlosen Reiseleiter fest vor Augen, und bin froh, dieses Gefährt bereits vor Jahren verlassen zu haben. Endlich kann ich mich frei und ohne Angst im Bibelland bewegen.

Es grüßen dich ganz herzlich  Omma und Oppa

Liebe Deborah,

“Abnabeln” ist notwendig, um selbst zu atmen…

Sich nicht mehr bevormuttern zu lassen, hilft erwachsen zu werden…

Vom geistigen Einheitsbrei wegzukommen, hilft uns bei der Nahrungsumstellung…

Die Umstellung auf das BROT des Lebens, auf das WASSER, das nie mehr durstig macht…

… ist unser Weg zu Christus.

LG Ulla

Durchsage im Orgbus: “Liebe Mitreisende, zu eurer Linken seht ihr den gottesfürchtigen David, wie er im Eifer für Gottes Königreich mutig gegen die falsche Anbetung vorgeht; gerade hat er die zweihundert Vorhäute in eine Picknickdecke gewickelt und an einen Ast gehangen, den er schulterrücks nach Saul trägt, um sich davon eine Frau zu kaufen. Bei geöffnetem Fenster kann man das geronnene Blut sogar riechen (1Sam18,27; 2Tim3,16). Und wenn jetzt mal alle nach rechts schauen, hinter dem Hügel da, da bringt Sacharja gerade schon den dritten Hirten um die Ecke. Das ist eine Vorschattung für Jehovas Vorkehrung, dem Sklaven gegenüber rebellische… Weiterlesen »

Liebe Ordnungszahl 83, und weiter gehts im OrgBus: In einiger Entfernung nimmt der Fahrer ein STOP Schild wahr, der gute Hirte hält es hoch, doch der Bus rauscht an ihm vorbei, reißt ihm das STOP Schild aus der Hand…flitz…und weiter gehts… Vom Strampeln erschöpfte Reisende beklagen sich beim BUS-Unternehmen, dass zu wenig Pausen gemacht werden…die “Störenfriede” werden in den hinteren Teil des Busses verwiesen und müssen sich unentwegt den “Brotkasten” ansehen… Erneut steht der gute Hirte nach jeder Ausfahrtmöglichkeit am rechten Straßenrand, hält seine Arme auf. Und seht! Tatsächlich können einige Reisende auf den Tritt fliehen und lassen sich in… Weiterlesen »

Was für ein Artikel! Klar auf den Punkt gebracht!

Die Fahrt im Organisations-Reisebus:

Dieses wackelige Gefährt! Die Reifen: abgefahren. Die Bremsen: defekt. Die Lenkung: aus der Spur. Die Fenster: verschmiert. …

Wenn der bald von der Brücke abstürzt und ausbrennt und du dich da drinnen befindest, erwischt es auch dich!

Da nützt es dir nichts, gesagt zu haben: Ich habe im Bus ja meinen eigenen Gedanken gehabt und mein eigenes Butterbrot gegessen.

Mitgehangen — mitgefangen!

Es hilft nur eines: rechtzeitig AUSSTEIGEN !!

Besser Fragen, die man nicht beantworten kann, als Antworten, die man nicht hinterfragen kann.

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