Mitgefühl – ausgenutzt oder nützlich?

Analyse des WT-studienartikels aus dem Wachtturm 09.2017 – durchgenommen am 05.11.2017

Warum fühlte man sich nach dem Studium dieses Artikels über Mitgefühl nicht erfrischt und ermuntert, sondern ausgelaugt und müde?

Wenn vor dem Hintergrund der christlichen Ethik über das Thema „Mitgefühl“ gesprochen wird, so kann man erwarten, inspiriert, auferbaut und gestärkt zu werden. Die eigene Grundhaltung, christliche Werte an den Tag zu legen, sollte bestätigt werden. Anders wäre dies, wenn das Thema in einer Weise dargestellt würde, die unerreichbare Ideale in den Mittelpunkt stellt oder die Eigenschaft des Mitgefühls auszunutzen versucht.

In der Tat ist dieser Artikel wieder ein Beispiel subtiler Botschaften. 

Mitgefühl ist eine Eigenschaft, die sich positiv abhebt von allgemeinem Anstand oder der Nothilfe in einer Sondersituation. Jedoch etwas Schlechtes oder Verbrecherisches nicht zu tun ist noch kein Mitgefühl, das dürfte wohl jedem klar sein.

Bevor wir uns dem Artikel „Sei mitfühlend wie Jehova“ näher widmen, ein paar Grunddaten aus dem Artikel: in 17 Absätzen werden 43 Bibelstellen genannt – der Leser wird wie jeden Sonntag quer durch die Bibel gejagt. Wir haben darauf verzichtet, die Sinnhaftigkeit der Bibelstellen in Bezug auf das Thema zu analysieren – es ist einfach zu viel.

Im ersten Teil wird Jehova – wie in der Überschrift benannt – als das Vorbild für die Menschen in Bezug auf Mitgefühl angeführt. Zwar bestätigt die Bibel die Liebe Gottes an vielen Stellen; wer liebevoll in all seinem Wesen ist, der zeigt auch Mitgefühl. Gleichwohl fragt sich grundsätzlich, ob es passend ist, den Allmächtigen als Beispiel hinzustellen, wenn es darum geht, mitfühlend zu sein.

Verwirrende Beispiele

In Absatz 1 heißt es: Moses brauchte die Gewissheit, die Unterstützung Gottes zu haben. Ja, das stimmt – aber das hat nichts mit Mitgefühl zu tun. Moses sollte als Werkzeug Gottes sein Volk aus Ägypten führen und fortan als Führer des Volkes vorangehen. Gott half und stärkte ihn – aber das hatte nichts mit Mitgefühl zu tun. Moses war nicht in Not – er brauchte Hilfe, Stärke, Unterstützung, Leitung – aber kein Mitgefühl. Er brauchte die Anleitung und Kraft, die seine Aufgabe erforderte – aber diese Aufgabe hatte er ja direkt von Gott erhalten. Kurzum: das Beispiel ist unsinnig, es ist unpassend.

Genauso ist es in Absatz 2:

es geht um den Rechtsfall, welcher vor König Salomo gebracht wurde – er sollte entscheiden, welcher der 2 Frauen das Kind gehörte, welches noch am Leben war – wir alle kennen diese Geschichte. Mutterliebe geht weit über normales Mitgefühl für irgendwelche Menschen hinaus – das ist völlig klar und für jedermann einsichtig. Die wahre Mutter des Kindes zeigte somit nicht normales Mitgefühl, sondern sie setzte sich dafür ein, das Leben ihres Kindes zu retten. Die Art, wie der König Salomo das Problem anging, gilt zwar als Beispiel seiner großen Weisheit, ist aber andererseits nicht gerade ein Beispiel für Mitgefühl.

Mitgefühl ist für einen Christen nicht deshalb ein Thema, weil „man Jehova nachahmen sollte“, wie es in Absatz 3 ausgeführt wird, sondern weil Mitgefühl eine Eigenschaft ist, die sich in der Grundhaltung eines Christen wiederfindet – weil es ein Merkmal der Nachfolger des Christus ist.

Auch die Geschichte der Rettung Lots und seiner Familie aus Sodom und Gomorra entsprechend Absatz 4 ist nicht etwa ein Paradebeispiel für das Mitgefühl Gottes. Man mag die Geschichte als Beispiel für die Gerechtigkeit Gottes anführen, weil er den Gerechten nicht mit dem Ungerechten umkommen lässt. Die Vernichtung dieser verderbten Städte war damals offenbar notwendig, die Rettung Lots ein Akt der Gerechtigkeit – aber die Todesstrafe für Lots Frau angesichts ihres Zögerns beim Verlassen der Stadt mag gerecht, konsequent, unausweichlich gewesen sein, ist aber auch kein Zeichen von Mitgefühl.

Gleiches gilt für die Rechtssätze aus dem mosaischen Gesetz. Das man einem Schuldner nicht das letzte nehmen durfte, was er zum Überleben hatte (Absatz 6), also seinen Wärmeschutz für die Nacht, das war kein Zeichen von Mitgefühl in der Gesetzgebung, sondern eine soziale Mindestvoraussetzung wie heute die Pfändungsfreigrenzen bei der Einkommenspfändung. Mitgefühl ist mehr als das Mindeste, was man einem Menschen aus Gründen der Menschlichkeit schuldet.

Absatz 7 und 8 erzählt die Geschichte einer Familie auf der Flucht, die der Ermordung entgangen ist und dies als Gottes Fügung angesehen hat. Dies als Zeichen des Mitgefühls von Gott zu interpretieren wirft unweigerlich die Frage auf, ob Gott mit den zahlreichen Christen, die in Kriegen, auf der Flucht oder durch Christenverfolgung umkamen, kein Mitgefühl hatte. Es suggeriert, dass Gott Jehovas Zeugen mitunter beschützt, andere Menschen jedoch nicht.

Doch selbst wenn man dies so interpretiert: ist es ein Akt des Mitgefühls des Schöpfers, dafür Sorge zu tragen, dass seine Geschöpfe leben oder überleben? Man mag dies mit positiven Adjektiven belegen, aber „Mitgefühl“ ist hier der falsche Begriff.

In Absatz 9 kommt man der Intention dieses WT-artikels langsam näher: es wird auf die Geschichte Bezug genommen, als Jesus große Volksmengen lehrte, sie aber auch speiste, bevor er sie nach Hause entließ. Es wird als Akt des Mitgefühls dargestellt, dass Jesus die Volksmengen lehrte – die Speisung der Volksmenge wird jedoch nicht erwähnt.
Jesus ist auf die Erde gekommen, um durch sein Opfer die Menschheit zu erlösen. Dreieinhalb Jahre verkündete er „das Königreich Gottes“ den Juden. Dabei predigte er und sprach in Gleichnissen, um die christliche Botschaft den Menschen begreiflich zu machen. Das war das, was Jesus hauptberuflich – als der Sohn Gottes auf Erden – tat. Und der Wachtturm sagt: mach das Gleiche – dann zeigst Du Mitgefühl.

Und so geht es nun in dem Artikel weiter.

Absatz 10 enthält die übliche Drohung: wer auf Gott nicht hört, wird vernichtet. Dazu gehören dann auch alle, die das, was in Absatz 9 steht, nicht tun.

Haben Zeugen Jehovas einen Geist für karitative Tätigkeiten?

Ab Vers 11 wird dann so getan, als ob Zeugen Jehovas einen Geist der Ehrenamtlichkeit haben, der sie veranlasst, karitativ tätig zu sein. Angeblich leisten sie Hilfe bei Katastrophen und helfen älteren Leuten.

Als Beispiel wird ein Verkündigerpaar angeführt, das regelmäßig eine Frau besuchte, die an Alzheimer litt. Diese hatte sich in die Hose gemacht. Die Verkündigerinnen halfen ihr, sich zu reinigen und tranken danach Tee mit ihr.
Bitte vergegenwärtige Dir die Situation: es ist grundsätzlich nicht verkehrt, auch Menschen mit Alzheimer regelmäßig zu besuchen. Hier war es also so, dass die 2 Verkündigerinnen die Frau schon länger kannten. Sie brauchte Hilfe – sie halfen ihr. Selbstverständlich zählt die ganze Zeit als „Predigtdienst“, der berichtet werden kann. Da die Schwestern also Stunde um Stunde unterwegs waren, um ihren Berichtszettel zu füllen, konnten sie hier auch ihre Zeit verbringen. Ist das für einen Zeugen Jehovas etwas Besonderes – wird dadurch „Mitgefühl“ ausgedrückt?

Es ist ausdrücklich so, dass Zeugen Jehovas es ablehnen, irgend etwas zur Verbesserung der Situation der Menschen beizutragen. So steht es im „Frieden“ – Buch (1986), Kapitel 11, Absatz 26:

Einige mögen einwenden: „Aber viele Organisationen der Welt tun Gutes, arbeiten zum Schutz und für die Gesundheit, die Bildung und die Freiheit des Volkes.“ Es stimmt, daß gewisse Organisationen einige wenige Schwierigkeiten, unter denen das Volk zu leiden hat, vorübergehend beheben. Doch sie sind alle ein Teil der von Gott entfremdeten Welt. Und sie veranlassen die Menschen, ihre Aufmerksamkeit auf den Fortbestand des gegenwärtigen Systems der Dinge zu richten. Keine dieser Organisationen befürwortet Gottes Regierung über die Erde — das durch seinen Sohn regierte Königreich. Übrigens mögen selbst Kriminelle Kinder aufziehen, für sie sorgen und wohltätige Werke für ein Gemeinwesen tun. Würden aber diese Dinge es rechtfertigen, kriminelle Organisationen auf irgendeine Weise zu unterstützen? (Vergleiche 2. Korinther 6:14-16.)

Nun heißt es jedoch im WT-artikel, Absatz 14:

„Wir haben auch Mitgefühl für solche, die unter Alter und Krankheit leiden. Wir beten um das Kommen des Königreiches Gottes und sehnen die Zeit herbei, in der niemand mehr krank und alt ist. Bis dahin leisten wir wann immer möglich Hilfe.“

Diese Darstellung ist unzutreffend und ein Widerspruch zu den Aussagen aus der Publikation von 1986.

Absatz 15 fordert erneut zum Missionieren auf, Zitat:

Vielen machen Probleme und Ängste zu schaffen. Wie können wir ihnen am besten helfen? Erklären wir ihnen, wer Gott ist, was sein Königreich bewirken wird und wie gut es ist, sich nach seinen Grundsätzen auszurichten (Jes. 48:17, 18). Durch den Predigtdienst können wir Jehova ehren und unser Mitgefühl zeigen. Ist es dir möglich, dich im Dienst noch mehr einzusetzen?

Als Fazit ist zu sagen: der Artikel greift ein wichtiges und wertvolles Thema auf. Inhaltlich hilft der Artikel aber kaum weiter. Die genannten biblischen Beispiele sind weitgehend unpassend – das Thema wurde verfehlt.
Selbst da, wo Gott direkt handelte, betreffen die biblischen Beispiele das Thema „Mitgefühl“ eher am Rand oder gar nicht.

Der Artikel will darstellen und behaupten, dass auch Zeugen Jehovas sich in der Gesellschaft mildtätig und mitfühlend bewegen – wobei das Wichtigste sei, seine eigene Religion missionarisch zu verbreiten. Ersteres ist schlicht falsch, letzteres ist kein Zeichen von Mitgefühl, sondern dient nur dem eigenwirtschaftlichen Interesse einer Religionsgemeinschaft, die ihr Kapital auch aus neuen Mitgliedern zu speisen versucht.

Das ist der Grund, weshalb auch dieser Artikel Dich nicht ermuntert und erfrischt aus der Versammlung gehen lässt. Schade!

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Tilo  Mir ist schon vor längerer Zeit ein Verlust am Empathie aufgefallen. Empathie ist die Fähigkeit des Menschen, sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen, also die Fähigkeit mitzufühlen. Dafür ist der Mensch ausgerüstet. Und wenn er Liebe leben möchte, dann braucht er diese Fähigkeit zur Empathie. Und er braucht sie auch, wenn es um Glaubensdinge geht und um Treue zum Gesetz Gottes. Als z. B. Joseph in Ägypten von der Frau Potiphars bedrängt wurde, sagte er ja nicht, dass es verboten sei Hurerei zu begehen. Nein, er konnte sich vorstellen oder hineinfühlen, wie sein Gott über Hurerei dachte und fühlte.… Weiterlesen »

Hallo lieber Bert, danke für den aufschlussreichen Artikel. Genau dasselbe habe ich mir bei diesem WT Studium gedacht. Ich frage mich oft, warum von der WTG verlangt wird, in allen Jehova zum Vorbild zu nehmen. Das ist doch für uns Menschen fast unmöglich. Es ist doch viel sinnvoller auf Jesus als Vorbild in Bezug auf Mitgefühl hinzuweisen ! Er lebte auf der Erde als Mensch und hat viel Mitgefühl gezeigt, welches wir nachahmen können. Dir lieber Tilo möchte ich auch danken, für Deinen Kommentar, der mir aus dem Herzen spricht, wie alle Deine Berichte. Ich stelle fest, dass die ZJ… Weiterlesen »

Hallo liebe Omma, in Altenheimen werden “freundliche” Roboter getestet, die Gespräche anbieten, zuhören und reden mit den Leuten. Spart Personal! Als ich diese Doku im Fernsehen sah, wurde mir fast schlecht! Wird die roboterhafte  “Freundlichkeit” in vielen Versammlungen gar keinen Unterschied zu den Robots in Heimen oder Hotelrezeptionen der Zukunft mehr aufweisen? Gruselige Vorstellungen, oder? Waren es nach dem 2. Weltkrieg überwiegend Traumatisierte, nach Ordnung und Halt suchende Menschen, die die Reihen der Versammlungen füllten und in die “Wahrheit” kamen, fallen nun, 70 Jahre danach, gerade jene sensiblen, mitfühlenden, mit feinen Antennen ausgestatteten Menschlein aus dem Schema heraus und können… Weiterlesen »

…. auch für euch bete ich, liebe Kämpferin, Paul Z21, M.N.,  Matthäus, TILO, RoKo24, Micha, Alpha, Mowani, 083, Noomi, Urmelchen…..

Es ist so schön, dass wir uns hier auf BI haben dürfen! Eine “Online Gemeinde”, in der immer mind. ein oder zwei im Namen Jesu versammelt sind…

Lassen wir unser Zusammenkommen nicht los, wir brauchen uns!

Ihr wißt gar nicht, wie gut ihr mir alle tut! Jeder hier bringt persönliche Gaben mit.

Wie schön, dass wir uns gefunden haben. Viele liebe Grüße aus dem kalten, regnerischen Nürnberg!

Servusli, Ulla

Lieber Bert, liebe Schwestern und Brüder, vielen Dank für die Mühe der Zusmmenfassung. Mir gings ebenso ähnlich. Ich kanns ja nicht mehr hören, dieses Eigenlob. Zur Zeit dauernd im Versammlungsbibelstudium unter der Woche in der “Festschrift zum 100jährigen Königreich”. Da geht es ja stets darum wie gut wir sind und wie viel Hilfe andere erhalten. Und nun ja ebenso im WT-Artikel Abschnitt 13 über Hilfseinsätze, hier in Japan nach dem Erdbeben 2011. Es wird so dargestellt, als seien die Zeugen die einzigen die helfen. Und die Brüder glauben das wirklich! Bei solchen Absätzen gibt es viele freudige Antworten. Wie du… Weiterlesen »

  Ich frage mich oft, warum von der WTG verlangt wird, in allen Jehova zum Vorbild zu nehmen.   Liebe Kämpferin, die gleiche Frage stellte ich mir auch oft. Ich möchte dir eine Auszug aus Barclay abschreiben, das sicher zu dieser Frage passt: Es geht hier in Epheser 4:1-3 eigentlich um Demut, passt aber trotzdem:   Demut beruht auf Selbsterkenntnis. Christliche Demut setzt voraus, dass wir unser Leben am Massstab des Lebens Jesu messen und im Lichte dessen sehen, was Gott von uns erwartet. Gott ist vollkommen. Dieser Vollkommenheit gerecht zu werden, ist nicht nur schwierig, sondern unmöglich. Solange wir… Weiterlesen »

Liebe Freunde, wenn JZ über “Mitgefühl” schreiben, dann ist das echt ein Witz! a) JZ leben in einer Parallelwelt. Sie benutzen die “Welt” für alles, was sie brauchen, nehmen, so viel sie können und geben so wenig wie möglich. Nach ihrer Auffassung ist es “Satans Welt” – die man nicht unterstützen, aber durch Ausnutzung schwächen darf. Diese “Welt” wird nach ihrer Auffassung in Kürze vernichtet werden mit allem drum und dran – und sie sind ausdrücklich kein Teil davon. b) JZ wird antrainiert, dass sie “Ausgeschlossene” und “Abtrünnige” meiden und ächten sollen. JZ sind in der Lage, mit jemandem, bei… Weiterlesen »

Was mir auffällt, sind frappierende Parallelen zwischen ZJ und politischen Parteien des rechten Randes. Eine sachliche Diskussion über ein Thema ist praktisch unmöglich. Wenn man sich kritisch äußert und ein Thema von einem anderen Gesichtspunkt aus durchdiskutieren möchte, wird man reflexartig als „Verräter“ oder linkslinker Spion beschimpft. Man switcht sofort auf die persönliche Ebene und verunmöglicht jedwede kritische Auseinandersetzung mit dem Thema. In einer Demokratie sollte man sich auch nach einer kontroversiell geführten Diskussion als Freund verabschieden können.

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